Donnerstag, 17. November 2016
„Man sagt: Bei der Geburt liegt die Seele der Frau offen“
Seit 1998 arbeitet Judith Schöndorf als Hebamme, seit Oktober 2000 im St. Marien- und Annastiftskrankenhaus. Wie vielen Kindern sie seither „auf die Welt geholfen“ hat, kann sie nicht beziffern. Aber eines weiß sie genau: Bei aller Routine – „Jede Geburt bleibt ein Wunder.“
Mit dieser Einstellung ist sie nicht allein unter ihren 22 Kolleginnen. Auch Karolina Feest ist immer noch fasziniert davon, „wie das alles funktioniert, wie das Kind ernährt wird und reift und dann geboren wird.“ Vielleicht, sinnieren die Frauen, sind Hebammen diejenigen in dem ganzen Ablauf von Schwangerschaft und Geburt, die einen besonderen Respekt vor der Geburt haben – und für die trotz aller Routine der Zauber daran niemals verloren geht. „Die Menschen lesen sich so viel im Internet an, beobachten dort Geburten, und die Frauen werden mit so viel Technik und Untersuchung konfrontiert, dass dieser Zauber manchmal verloren geht“, bedauert Judith Schöndorf. Ihr Respekt als Hebamme rühre aber auch daher, „dass wir wissen, was alles möglich ist – im Guten wie auch im Traurigen.“
Es ist Nachmittag im Kreißsaal, und die diensthabenden Hebammen haben Zeit, über solche Themen nachzudenken. „Wir haben im Schnitt sechs Geburten am Tag, heute war noch keine – da kommt bestimmt noch was“, lacht Judith Schöndorf. Neben ihrer Professionalität ist sie mit vielen Gefühlen bei der Arbeit: „Das größte Glück ist es, wenn Eltern sich freuen, das steckt an – aber auch die Trauer steckt an, etwa bei einer Totgeburt“, sagt sie. Die lange Zeit, in der sie die werdende Mutter auf de Entbindungsstation erlebt, ist oft intensiv. „Man sagt, bei der Geburt liegt die Seele der Frau offen“, zitiert sie.
Ob die werdende Mutter Gottes Gegenwart spürt? – Die Hebamme weiß es nicht. Sie erlebt, dass muslimische Frauen nach Allah rufen, christliche ebenfalls eine göttliche Macht anrufen – und sie hört so oft den Schrei: „Das überlebe ich nicht!“ - „Meistens ist das in der entscheidenden Phase des Geburtsvorgangs“, so ihre Erfahrung; vielleicht in einem Moment, in dem aus dem Mädchen eine Mutter wird. „Aber das ist nur eine Vermutung.“
Keinen Zweifel gibt es jedoch daran, dass das Kind direkt nach der Geburt zu der Mutter gehört – als eine Einheit. Die Frauen bleiben nach der Geburt noch etwa zwei Stunden im Kreißsaal, mindestens eine Stunde davon haben sie ihr Kind ganz eng bei sich. „Diese Einheit darf man nicht stören“, ist Judith Schöndorf überzeugt.
Zur Sache: Gott im Geschenk des neuen Lebens
Ich glaube, die Menschen begegnen Gott rund um die Geburt ein bisschen ähnlich wie am Lebensende – nämlich in diesem Unverfügbaren, Nicht-Machbaren, diesem Geschenkten des neuen Lebens, dem Wunder, das ihnen nach allem Schmerz der Wehen, nach allen Mühen und vielleicht Ängsten der Schwangerschaft da auf einmal im Arm liegt.
Oft erlebe ich das auch so, dass die Partner sich nochmal neu entdecken – als Paar, das sich liebt und jetzt auch noch miteinander Eltern sein darf von diesem wunder-baren kleinen Wesen da!
Und ich möchte nicht vergessen, auch die traurigen Situationen zu erwähnen, wenn ein Kind krank, behindert oder tot auf die Welt kommt: Gerade da fragen die Eltern oft nach Beistand, nach einer Segnung oder Nottaufe - auch manchmal die, die nicht kirchlich gebunden sind. Sie möchten ihr Kind wenigstens irgendwo geborgen und auf-gehoben wissen bei diesem Gott; sie suchen und finden – zumindest manchmal - gerade in ihrem Schmerz und ihrer Trauer seine Gegenwart. - Birgit Kiefer, Klinikseelsorgerin im St. Marien- und St. Annastiftskrankenhaus
Foto ©: St. Marien- und St. Annastifstkrankenhaus